23.06.2023 09:00
Jan Pietersz. Saenredam
(Zaandam 1565 - 1607 Assendelft)
nach
Hendrick Goltzius
(Bracht 1558 - 1617 Haarlem)
Die Tageszeiten
Der Morgen – Der Abend – Der Mittag – Die Nacht
ca. 1595-1598
Folge von vier Kupferstichen auf chamoisfarbenem Bütten,
in Trägerblätter aus chamoisfarbenem Bütten mit angeschnittenem
undeutlichem Wasserzeichen auf Blatt 2 und 3 eingesetzt
21,1 x 14,8 cm (Blätter max.)
Inv.-Nr. 2021.212
Mit den 2021 erworbenen vier Blättern der „Tageszeiten“ konnte LETTER Stiftung den Sammlungsschwerpunkt „Folge / Zyklus“ mit einem weiteren Werk aus dem Bereich der alten Graphik erweitern, in der Künstler sich mit ikonographisch tradierten Bildthemen immer wieder neu auseinandergesetzt haben und diese dabei formal und z.T auch inhaltlich jeweils „zeitgemäß“ interpretierten.
Häufig gewählt wurden dazu Monats-, Jahreszeiten- oder Tierkreiszeichenfolgen, theologische Themen wie die Tugenden und die Todsünden, menschliche Eigenschaften wie die Sinne oder Temperamente, Folgen mit biblischen oder mythologischen Personen wie Propheten, Musen oder antike Götter sowie Personifikationen der Künste und Wissenschaften („artes liberales“).
Anliegen solcher Folgen war es, Abstraktes bildlich darzustellen und Ordnungssysteme zu schaffen, die geeignet waren, Irdisches und Himmlisches in Einklang zu bringen, die oft unerklärlichen Phänomen der Natur faßbarer zu machen und das menschliche Leben zu strukturieren. Kennzeichnend für die bildliche Umsetzung ist dabei, daß der nur vordergründig deskriptiven Darstellung der Personen oder Szenen fast immer eine oder gar mehrere weitere Sinnebenen unterlegt sind, die sich erst aus der Interpretation der begleitenden Attribute und der Entschlüsselung der oft allegorisch überhöhten Darstellungen erschließen und die häufig durch einen Text unterhalb der Darstellung kommentiert werden, der in der Regel in Latein abgefaßt wurde und metrisch ist.
In der
vorliegenden Folge hat Goltzius als entwerfender Künstler – seine originalen
Zeichnungen haben sich leider nicht erhalten – die Zeiten des Tages
thematisiert und sie als zyklisches Ereignis mit den Tätigkeiten und
unterschiedlichen „Gemütszuständen“ der Menschen in Beziehung gesetzt. Die
Texte in der Platte unterhalb der Darstellung stammen von dem humanistischen
Schriftsteller Cornelis Schoneus (1541-1611) und stellen eine inhaltliche Kommentierung
der Darstellungen dar ohne jedoch deren literarische Vorlage zu sein.
Gestochen wurden die Entwürfe von Goltzius, der als umfassend gebildeter „pictor doctus“ das komplexe Bildprogramm auch selbst erfunden hat, durch Jan Pietersz. Saenredam, den auch als Stecher einer ganzen Reihe weiterer Entwürfe des Künstlers bekannt wurde. Zwar beherrschte Goltzius den sehr zeitaufwendigen Kupferstich auch selbst in höchster Perfektion, doch gebot es die Arbeitsökonomie, nicht alle Entwürfe selbst auf die Platte zu bringen, sondern sich hierfür professioneller Stecher zu bedienen, von denen einige – wie auch Saenredam – von Goltzius selbst ausgebildet worden waren bzw. in engem Werkstattverbund mit ihm arbeiteten.
Obwohl die Darstellung der Tageszeiten eine lange Tradition hat und es auch in der niederländischen Kunst des 16. Jahrhunderts bereits ältere Beispiele gab, bei denen der Fokus auf ganzfigurigen und prominent plazierten, teilweise bereits mit einer untergeordneten „Begleithandlung“ versehenen Personifikationen von Morgen, Mittag, Abend und Nacht lag, zog es Goltzius vor, sich nicht an dieses etablierte Bildschema zu halten. In seiner Folge rückt statt dessen die Schilderung von Alltagsszenen prominent in den Vordergrund, die mit großer Liebe zum Detail dargestellt werden. Die traditionellen Personifikationen (Aurora – Sol – Vespera – Nox) spielen dagegen nur noch als miniaturhafte Hintergrundszenen eine Rolle und schaffen die Verbindung zwischen menschlichem Wirken und himmlischer „Supervision“.
Neu bei Goltzius ist auch, daß er die Abfolge der in der Platte numerierten Blätter nicht konkordant mit der Abfolge der Tageszeiten setzt, sondern den Abend dem Morgen folgen läßt und den Mittag der Nacht voranstellt. Begründet ist dies in den Deutungsebenen der Texte von Schoneus, der die Tageszeiten mit menschlichen Gemütszuständen in Bezug setzt: Der Morgen ist bestimmt von Sorge, was der neue Tag wohl bringen mag, der Mittag von harter Arbeit, mit welcher der Tag gemeistert wird, der Abend dann von geselligem Miteinander und fröhlichem Feiern als Belohnung nach hartem Tagwerk und die Nacht von tiefer Ruhe, die den Geist von allen Sorgen befreit.
Daraus ergeben sich die zwei Antagonismen „Sorge“ – „Sorglosigkeit“ bzw. „Arbeit“ – „Ruhe“, die Goltzius in seiner Inszenierung auch kompositionell aufeinander bezog. Auf diese Weise verwob er gleich mehrere Bedeutungs- und Leseebenen miteinander und erreichte damit eine Vielschichtigkeit und bildliche Präsenz des Themas, die weit über die Bildschöpfungen seiner Vorgänger hinausreicht.
Rudolf Rieger